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Niederlande

Frits Winkelmolen

Am 20. Juni 1945 sind Frits und sein Vater wieder zu Hause. 400 Kilometer haben sie hinter sich gebracht, zuerst zu Fuß, dann mit dem Laster und mit der Bahn, haben bei Bauern und in kaputt geschossenen Kasernen übernachtet, gewartet, gehofft. Beide sind kurz nach dem 12. April von Hilkerode aufgebrochen und haben sich in Rüdershausen beim Bäcker Ahrend noch schnell eine kleine Handkarre mit Brot vollgeladen. Der Weg durch die vom Krieg demolierte Landschaft war schwer begehbar. Einheiten und zerstreute Mannschaften, Heimatlose und Ortsansässige – oftmals kreuzten sich ihre Wege und keiner wusste vom anderen, warum er dort war.

Zurück zu Hause geht alles schon bald wieder seinen normalen Gang. Was redet man auch groß von einer Sache, die fast jeder aus dem Dorf miterlebt hat. Manchmal werden auch Fragen gestellt wie die, wieso man 1944 nicht aus den Reihen der Deportierten geflohen sei. Seltsame Fragen.

Frits lebt. Er heiratet und bekommt acht Kinder. Seine Leidenschaft ist das Trompetespielen im Fanfarenzug. Mit seinem Bruder Sjraar arbeitet er – genau wie vor dem Krieg – viele Jahre zusammen in einem Baubetrieb. Eines seiner Kinder kommt zu Tode, ein schwer zu verarbeitender Schlag. Frits ist oft in der alten Werkstatt, oder er macht Restaurierungsarbeiten für die Kirche in Neer, restauriert sogar eine Turmspitze eines Schlosses in Grathem. Für seine 15 Enkelkinder baut er Babyzimmer.

Frits stirbt nur wenige Tage nach der Feier seines 86. Geburtstags am 6. November 2007 in Neer, kurz nachdem er uns seine Geschichte erzählt hat.

Cees Louwerse

Cees kann nicht direkt zurück in die Niederlande. Seine ukrainische Marusha hat keine gültigen Papiere mehr und damit sie als Niederländerin über die Grenze mitkommen kann, müssen sie heiraten, was erst beim dritten Versuch gelingt. Solange arbeitet Cees als Übersetzer bei den Alliierten.

Endlich verheiratet, steigt das Paar zur Heimreise in den Zug. Dort wartet noch eine letzte Hürde: Ein Besatzungsoffizier meint, Marusha solle vorerst lieber hinter einer am Fenster hängenden Jacke versteckt reisen, damit sie »nicht so ins Auge fällt«. Über Hannover und Brüssel kommt der Zug im niederländischen Tilburg an, rollt von dort aus weiter nach Zeeland.

Cees muss noch einmal zurück nach Göttingen. Alleine – um dort seine Arbeit zu erledigen. Im Dezember 1945 kehrt auch er für immer nach Hause zurück. Auch dort nur ein kurzer Blick zurück, auch dort von manchen die Frage, ob er als Student 1943 nicht doch besser untergetaucht geblieben wäre...

Cees macht seinen Doktor der Sozial-Geografie, ist Lehrer an einem christlichen Gymnasium in Utrecht und errichtet später an der Akademie »De Horst« in Driebergen eine Abteilung »Kulturelle Arbeit«. Ab 1971 ist er als Studienberater an der Universität in Utrecht beschäftigt. Inzwischen ist er erneut verheiratet und hat fünf Kinder aus beiden Ehen.

Cees lebt heute sein immer noch arbeitsames Leben nahe Utrecht.

Die Zeit in Deutschland hat bei Cees ebenso ihre Spuren hinterlassen wie bei Frits. Ihre Erlebnisse führen aber nicht zu Hass oder Bitterkeit den Deutschen gegenüber. Vielmehr haben die guten wie die schlechten Erfahrungen eine Tür zu einem anderen, offeneren Weltbild geöffnet. Auch in dieser schwierigen Zeit war eben nicht alles nur schwarz-weiß, es gab die unterschiedlichsten Grautöne mit den verschiedensten Hintergründen. Vergessen ist dabei nichts, verstanden und verziehen aber vieles.

»Der Aufenthalt dauerte mir nur zu lange«, sagt Cees. »Ich war ja schon lange vom bevorstehenden Ende des Krieges überzeugt, eines Krieges, den die Deutschen einfach nicht gewinnen konnten.«

Studentenausweise der Universität Utrecht für Cees Louwerse für das Studienjahr 1941/42 und für das Studienjahr 1945/46:

Quelle: Cees Louwerse, De Bilt

 

Memorandum des Göttinger Town Major vom 6.10.1945, Inhalt: Sgt. Cees Louwerse, ehemaliger Zwangsarbeiter, ist beim 330 Town Major als Übersetzer beschäftigt und leistet hier wertvolle Dienste; ihm ist die Ausreise in die Niederlande vorübergehend erlaubt, um seine Frau zu seinen Eltern zu bringen, anschließend soll er nach Göttingen zurückkehren:

Quelle: Cees Louwerse, De Bilt

 

Ungerechtes Vergessen

Das Leben der zurückgekehrten niederländischen Zwangsarbeiter verlief oftmals so, wie es uns Frits und Cees schildern. Viel geredet über die Zeit in Deutschland wurde bei der Heimkehr eigentlich nicht. Nur wenn sie sich untereinander trafen, erzählten sie Geschichten von früher und schauten auf die damaligen Erlebnisse zurück. Die Familien waren froh, wenn alle wieder beisammen waren und man nicht das Los der in Deutschland Verstorbenen und ihrer Angehörigen teilen musste. Auf diese kurze Freude folgte dann in der Regel schnell und geräuschlos das tägliche Leben, der Aufbau der Häuser, die Bewirtschaftung der Äcker und Weiden oder das Studium. Nach den fünf Besatzungsjahren gab es schließlich so einiges an Wiederaufbauarbeiten zu tun, ganze Landstriche standen kurz vor dem Zerfall.

Ende der 1990er Jahre zahlten deutsche Betriebe und die deutsche Bundesregierung viele Milliarden Mark in einen Fonds zur finanziellen Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeitender ein. Die niederländischen Medien bauschten den Vorgang zu der Aussage auf, dass jeder der über 500.000 ehemaligen Zwangsarbeitenden seinen Teil erhalten sollte, und so endete diese deutsche Geste für die meisten von ihnen im relativen Chaos: Das Thema Zwangsarbeit hatte 50 Jahre vor sich hin geschlummert, viele der älteren Betroffenen waren schon verstorben, viel Beweismaterial vom damaligen Einsatz war verschwunden: weggeworfen oder verschollen, da nie wichtig erschienen war, es richtig aufzubewahren. Für eine Aufarbeitung der Geschichte, die in vielen individuellen Fällen das damalige Leiden hätte beweisen können, hatte es niemals Zeit gegeben. Abertausenden wurde damit sogar posthum noch Unrecht angetan, Abertausende, die noch lebten, bekamen nichts, eben weil es keinen Beweis für ihre Leiden mehr gab.

Empor

Mit der Enttäuschung über dieses Unrecht wurde aber auch der Ruf nach Aufarbeitung des Themas immer lauter. Man wollte seine Erlebnisse teilen, sein damaliges Schicksal öffentlich machen, damit es nicht wie viele andere vor ihnen verloren gehen würde. Langsam tauchten Tagebücher auf, wurden alte Briefe und Postkarten gefunden, kamen Ausweise, Passierscheine und alte Fotos aus vergessenen Schubladen hervor. Seite um Seite füllten sich auch Erlebnisberichte, worin sich ehemalige Zwangsarbeitende oft zum ersten Mal seit 1945 über ihre Erlebnisse im Krieg äußerten.

Wichtiger vielleicht noch als jede finanzielle Vergütung war es für die ehemaligen Zwangsarbeitenden, sich nun endlich als Kollektiv äußern zu können; das Thema nahm langsam Gestalt an, die damaligen Umstände konnten endlich begreiflich gemacht werden, wodurch die Betroffenen die verdiente Aufmerksamkeit erlangten. Aus diesem sich bis heute weiter entwickelnden Kollektivgedächtnis entstand eine Basis, die es ermöglicht, an Projekten wie dieser Ausstellung teilzunehmen. Eine Ausstellung, die versucht, ein Stück gemeinsamer Geschichte zu erzählen, zum Nachdenken anzuregen.

»Die Jahre, die wir im Krieg erlebt haben, zählen doppelt«, äußert sich ein ehemaliger Zwangsarbeiter. Hat er es begriffen? Ist nichts schwarz-weiß; wagen einige Menschen unter bestimmten Umständen das Äußerste, versucht ein Großteil der Bevölkerung, sich unter den gesetzten Bedingungen immer innerhalb der Grenzen des menschlich Zumutbaren und Möglichen zu bewegen? Wenn wir uns zum Vergessen zwingen und nicht aufpassen, müssen auch wir uns zukünftig vielleicht wieder, wegen der Extreme von wenigen, als Mehrheit in genau solchen Umständen bewegen, wie sie unseren Eltern und Großeltern damals auferlegt wurden.

Diese Erfahrungen, lasst sie uns also festhalten, indem wir sie über diese Ausstellung öffentlich verbreiten. Damit wir zukünftig nicht zu schnell urteilen. Erst auf diese Weise werden wir der ganzen Sache vielleicht gerecht.